Der Straußmörder von Karl-Heinz Nebel

Johannes Blumenbinder schaute schon etwas genervt auf das Display seines Mobiltelefons als es klingelte; Mandy vom Marketing hatte schon fast eine Standleitung zu ihm aufgebaut. »Was ist denn nun noch?«, fragte er barscher als beabsichtigt.

»Jetzt bleib mal schön ruhig, du bist nicht der einzige, der die Gala im Wiener Konzerthaus vorbereitet. Soll ich bei der Donau Fünf-Achtel-Takt ausschreiben oder als Bruch darstellen?«

Johannes legte seine Fingerspitzen der freien Hand an die Stirn und zwang sich zur Ruhe. Warum hört mir keiner zu?, fragte er sich in Gedanken. »Wenn wir ausposaunen, dass wir die heimliche Hymne der Wiener neu interpretieren, spielen wir vor leerem Saal. Lass uns das doch eine Überraschung sein für das konservative, verwöhnte Publikum.«

Mandy machte kein Hehl aus ihrer Skepsis. »Vergiss nicht, du bist der Leiter des Jugendsinfonieorchesters Dresden und präsentierst Sachsen.« Johannes konnte es ihr schlecht ins Gesicht sagen, dass er selbst ein ungutes Gefühl in der Magengegend hatte. Aber als er letztes Jahr zu Weihnachten von einem Gospelchor Kommet, Ihr Hirtenim Fünf-Achtel-Takt gehört hatte, war er auf der Stelle von dem Wunsch beseelt, in Wien etwas ähnlich außergewöhnliches zu bieten. Und wenn es schon einen Knall geben sollte, dann einen lauten.

»So, jetzt ist Schluss hier«, sagte Johannes, während er das Handy ausschaltete und wegsteckte, und sich dann wieder der Probe widmete. Er nahm seinen Taktstock, räusperte sich, schaute in alle Augen, die gespannt auf ihn gerichtet waren und hielt in der Bewegung inne, denn sein Blick fiel auf die siebzehnjährige Jenny mit den schwarzen Locken und von Natur aus kirschroten Kussmund. Sie flehte ihn mit ihrem Blick an, die Donau im Original zu spielen, aber er hatte sich entschieden.

»Also noch einmal das Ganze. Die Eröffnung bitte genau wie im Original. Schön getragen und leise und ausdrucksstark. Die Pauken und Becken zusammen mit den Bläsern pathetisch, und dann peppig in den Fünfer. Schaut alle auf mich, damit es keiner vermasselt. Wir haben nur noch diese eine Probe.«

Die Maschine landete pünktlich in Wien, der Bus wartete bereits für die Fahrt zum Konzerthaus in die Lothringerstraße. Johannes war in Hochform, sein Orchester würde auf der Bühne sitzen und eine Gala abliefern, wie sie Wien von einem Jugendorchester vorher nicht erlebt hatte. Als sie die Maschine verließen, zeigte sich nun doch eine gewisse Anspannung. Im Konzerthaus würde es noch eine Probe geben.

Jenny blieb neben Johannes stehen, als alle anderen in den Bus gestiegen waren.

»Warum steigst du nicht ein?«, fragte Johannes.

»Lass die Donau weg. Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl dabei.«

»Was?« Johannes war wie vom Blitz getroffen. »Warum denn? Wie kommst du denn darauf?«

»Das ist nicht mehr Johann Strauß.«

»Das ist nicht mehr original Johann Strauß. Aber das wissen wir doch. Alle Töne sind noch vorhanden. Gut, den einen oder anderen musste ich unterdrücken. Aber ihr seid doch auch begeistert. Das spüre ich doch, wenn ihr spielt.« Er legte Jenny den Arm um die Schulter. »Steig ein und mach dir keine Sorgen. Das wird ganz großartig. Ich weiß das.«

Die Stühle und Notenpulte standen auf der Bühne. Backstage waren die Wangen gerötet und die Hände schwitzten vor Anspannung und Adrenalin. Johannes wagte einen Blick in den Saal. »Ausverkauft. Der Saal ist ausverkauft. Kein Stuhl ist mehr frei.« Er sah auf die Uhr, gab ein Zeichen und die Musiker gingen auf ihre Plätze, während das Publikum höflich applaudierte. Am Schluss ging er selbst hinaus und verbeugte sich.

Eine junge Frau kam und gab ihm ein Mikrofon in die Hand.

»Sehr verehrtes Publikum, meine Damen und Herren, liebe Musikfreunde. Wir sind sehr glücklich, heute bei Ihnen im schönen Wien und hier im Konzerthaus sein zu dürfen und danken Ihnen für Ihre Vorschusslorbeeren. Wir wollen heute Eulen nach Athen tragen, denn wir spielen Strauß in Wien.«

Lachen und Applaus. Johannes spürte, dass der Funke übergesprungen war.

Sie begannen mit Märchen aus dem Orientvon Johann Strauß. Im Saal war es totenstill geworden. Der Klang des Orchesters schwebte im Raum, umschmeichelte die Zuschauer und nahm sie mit auf die Reise. Johannes hatte sich nicht geirrt, der Applaus war für das erste Stück stärker, als er zu hoffen gewagt hatte. Die Wiener hatten sie herzlich in Empfang genommen.

Nach der Pause kam Johannes mit klopfendem Herzen auf die Bühne zurück. Das nächste Stück war An der schönen blauen Donauin seiner modernen Bearbeitung. Bisher liebte das Publikum die Musik, die sie gespielt hatten. Bliebe das so?

Johannes hob den Taktstock und ganz leise setzten die Geigen ein. Dann kamen die Waldhörner dazu. Ganz sanft begann die Donau in ihrem Bett zu fließen, wurde langsam stärker, Wellen schlugen, immer noch sanft, an die Ufer und schließlich fand sie ihren Rhythmus. Und noch ehe sie blau durch grüne und blühende Auen zu fließen begann, war dieses sanfte Schwingen zu Ende und die Geigen wurden hippelig und die Trompeten forderten zu einem ausgelassenen Tanz im Fünf-Achteltakt. Die Donau wurde wild und aufgewühlt und brodelte, bis sie aber schließlich am Ende doch wieder im Walzertakt beschwingt zur Ruhe kam.

Johannes hatte alles um sich herum vergessen. Das Orchester spielte, als sei es verzaubert. Alles kam zur rechten Zeit mit der passenden Intensität und die Töne schienen von Göttern gespielt zu werden.

Als der letzte Ton verklungen war, traute er sich nicht, sich umzudrehen. Die eingetretene Stille wurde zur Qual und unendlich lang und hatte doch nur Sekunden gedauert, bis der Applaus donnernd einsetzte. Johannes hätte vor Glück in die Luft springen können. Als er sich umgedreht und aus seiner tiefen Verbeugung wieder erhoben hatte, erblickte er eine kleine Frau, die auf die Bühne und direkt auf ihn zukam. Sie trug ein türkisfarbenes Kleid und an ihren angewinkelten linken Arm hatte sie ihre Handtasche gehängt. Sie hatte flinke Augen, in denen Tränen standen. Sie stand vor ihm und schaute ihn an.

Johannes beugte sich leicht zu ihr hinunter. »Gnädige Frau, würden Sie bitte wieder an Ihren Platz gehen? Das Konzert ist noch nicht zu Ende.«

Ihr kleiner Kopf wackelte leicht und die Tränen liefen ihr schließlich über die Wangen. Johannes war überwältigt, welche Wirkung sein Experiment erzielt hatte und wollte sie in die Arme nehmen.

Doch sie kam ihm mit unerwartet fester Stimme zuvor: »Junger Mann, da irren Sie sich. Sie haben soeben Johann Strauß ermordet!« Dann drehte sie sich um, ging von der Bühne und verließ trippelnd den Saal.

Karl-Heinz Nebel

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