Reif fürs Museum von Elfride Stehle

Ich werfe einen kurzen Blick zur Wanduhr, bevor ich ihn weiter über den Schreibtisch wandern lasse. An zwei Aktenordnern bleibt er hängen. Nachdenklich ziehe ich die Stirn in Falten. Das alles muss ich heute noch schaffen. Mir wird schlecht allein bei diesem Gedanken. Dabei ist es bereits 15 Uhr und der Feierabend schon sehr nahe. Sogleich macht sich ein weiterer Gedanke in mir breit: ich brauche Urlaub – auf der Stelle – sofort. Ich brauche endlich Zeit nur für mich. So richtig ausschlafen – in aller Ruhe frühstücken – den ganzen Tag im Schlafanzug rumlaufen – kein Handy, kein Computer – nur ich und sonst nichts und niemand. Ich seufze bei dieser traumhaften Vorstellung. Ja, das könnte ich schon eine ganze Woche durchhalten. Aber was mache ich danach? Natürlich weiter Urlaub, das steht fest wie das Amen in der Kirche! Denn erst nach vierzehn Tagen setzt der Erholungseffekt ein – laut einer wissenschaftlichen Studie. Und bevor ich womöglich einen Burnout erleide – ist ja die Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts – muss ich mir Erholung verschaffen. Erneut schiele ich auf den Aktenstapel. Ich verschränke beide Arme vor mir auf dem Tisch und lasse meinen Kopf darauf sinken.
Was hält mich eigentlich davon ab, frei zu machen, frage ich mich mit einem Mal, erhebe mich und stelle mich entschlossen ans Fenster. Für einen kurzen Moment verschwinden die Akten aus meinem Sichtfeld und gleichzeitig aus meinem Kopf. Ich öffne das Fenster, atme die frische Luft ein, als ich auf ein Amselmännchen aufmerksam werde. Es hüpft auf dem Stück Wiese vor dem Haus hin und her und sucht mit seinem gelben Schnabel wild pickend in der Erde nach Würmern. Während ich den Vogel amüsiert beobachte, fällt mir erneut mein Urlaubsvorhaben ein, und eine Blitzidee erfasst mich. Ich weiß nun, was ich mir in der zweiten Woche gönnen könnte. Zum Beispiel etwas Kultur. Ja, Kultur wäre genau das Richtige, denn nur faulenzen ist nicht mein Ding. Deshalb mache ich rasch das Fenster zu und setze mich zurück an meinen Schreibtisch. Mit geschlossenen Augen denke ich weiter über meine Urlaubspläne nach. Mir schwebt da ein ausgiebiger Museumsbesuch vor. Wann war ich zum letzten Mal in einem Museum, überlege ich gerade, als unerwartet und ohne Anzuklopfen mein Chef ins Büro platzt. Ohne Punkt und Komma spricht er ganz aufgeregt: »Frau Müller, Sie können keinen Urlaub bekommen, nicht bei dem Krankenstand!« Und schon ist er wieder raus. Ich aber sitze mit offenem Mund auf meinem Drehstuhl wie erstarrt, und werde mal rot und mal blass.
Was war das eben? Habe ich richtig gehört? Ich soll keinen Urlaub bekommen? Was fällt dem ein? Und überhaupt – kann der Gedanken lesen? Ich habe doch noch gar keinen eingereicht …aber ich brauche tatsächlich Urlaub, und mein Chef ist dagegen – nein, das geht nicht, das kann und will ich nicht akzeptieren! Kaum zu Ende gedacht erhebe ich mich und laufe zwei Türen weiter. Noch bevor ich das Chefbüro erreicht habe, mache ich kehrt. Der Mut hat mich verlassen. Und wieder werde ich auf meinen Urlaub verzichten. Zum dritten Mal in diesem Jahr. Immer kam etwas dazwischen. Das erste Mal verzichtete ich zugunsten einer alleinerziehenden Kollegin auf meinen Ostseeurlaub. Das zweite Mal im Herbst – ich hatte schon das Flugticket für Ägypten in der Tasche – da legte mich eine Krankheit lahm. Dabei hatte ich mich wie verrückt auf die Pyramiden gefreut. Doch nix da. Und nun soll ich erneut verzichten? Dabei habe ich diesmal einen Museumsbesuch geplant, wenn auch erst vor fünf Minuten, aber das ist egal. Geplant ist geplant!
Mein besonderes Interesse gilt den Bildergalerien, vorrangig der Landschaftsmalerei. Meine Eltern rasten früher mit mir, im wahrsten Sinne des Wortes, durch jedes Museum, das sich ihnen bot. Gesehen hatte ich dabei nie etwas so richtig. Mein späterer Mann interessierte sich auch für Museen, aber mehr für alte Autos und deren Technik. Da blieb ich lieber daheim. Seit kurzem bin ich nun allein. Jetzt kann ich endlich mal an mich denken, daran, was mir gefällt, und ich muss auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Jedes einzelne Gemälde werde ich ausgiebig betrachten. Doch das hat mir mein Chef gerade gründlich vermasselt. Ich hadere noch, mich meinem Schicksal zu ergeben, da kommt mir eine geniale Idee: Im Grunde genommen benötige ich für mein Vorhaben nur einen einzigen Tag … hmmm, und den werde ich mir auch nehmen! Basta! Gleich morgen melde ich mich krank! Was andere können, kann ich schon lange. Aber jetzt muss ich noch den restlichen Schreibkram erledigen. Dafür setze ich mich wieder an den Schreibtisch, schnappe mir eine Akte nach der anderen, bis ich nur noch fünf Seiten auf meiner Tastatur eintippen muss …

Um 08:00 Uhr öffnet das Museum. Ich bin die erste Besucherin. Kaum habe ich meine Eintrittskarte in der Hand, fühle ich mich auch schon von den vielen Bildern magisch angezogen. Die ersten zwei Stunden nutze ich, um mir einen groben Überblick zu verschaffen. Erst um halb elf gehe ich zum Eingang zurück und beginne nun, die Gemälde ausführlich unter die Lupe zu nehmen. Die vielen anderen Museumsbesucher beachte ich gar nicht. Ich betrachte voller Faszination jedes Kunstwerk bestimmt eine halbe Stunde. Jedenfalls kommt es mir so vor. Ich bemerke überhaupt nicht, wie die Zeit vergeht. Nicht einmal Hunger verspüre ich. Nur einen Kaffee habe ich mir aus meiner mitgebrachten Thermoskanne gegönnt. Dass inzwischen, außer mir, keine weiteren Besucher mehr zu sehen sind, fällt mir nicht auf. Aber jetzt muss ich doch mal zur Toilette.
Kaum zurück, betrete ich den letzten Saal dieser Galerie und stelle fest, wie Sonnenstrahlen durch die Fenster leuchten. Ich schüttele verwundert den Kopf. Die anderen Räume waren doch fensterlos, oder?
Wie in Trance schreite ich auf ein wunderschönes Gemälde zu, auf dem ein großes Getreidefeld zu sehen ist. In dem Augenblick scheint mir die Sonne mitten ins Gesicht – und da passiert etwas Merkwürdiges …
Hundegebell ist zu hören und Motorengeräusch, das immer lauter wird. Dann sehe ich einen Mähdrescher direkt auf mich zukommen. Ich versuche wegzulaufen, komme aber nicht vom Fleck. Im letzten Moment halte ich mein Gesicht in die Sonne, und … ich stehe wieder im Saal vor dem Bild.
Mir ist schwindlig. Immer noch leicht benommen sehe ich mich suchend nach einer Bank um und setze mich. Mir wird plötzlich bewusst, dass ich allein bin. Ich schaue auf meine Uhr. Schon 18:30 Uhr. Entsetzt springe ich auf, renne zum Ausgang, greife nach der Klinke und will die Tür öffnen. Doch die ist zu. Man hat mich eingesperrt. Was soll das?
»Hilfe, Hilfe«, rufe ich, so laut ich kann. Aber niemand hört mich. Resigniert lasse ich mich auf den Steinfußboden sinken. Vielleicht kommt später der Nachtwächter vorbei, hoffe ich insgeheim – falls sich das Museum überhaupt einen leisten kann …

»Frau Müller, haben Sie um HILFE gerufen? – Was machen Sie überhaupt noch hier? Sie haben doch schon lange Feierabend?«
Ich schrecke auf und schaue in die Augen meines Chefs. Was will der hier im Museum, wundere ich mich, bis ich feststelle, dass ich noch immer an meinem Schreibtisch sitze.

Elfride Stehle, 69 Jahre

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